Das Aufatmen war groß, nicht nur in Kanada. An der Klippe stand auch das Schicksal der Nordamerikanischen Freihandelszone Nafta, die Vision eines Nordamerika ohne Grenzen, ja grundsätzlicher noch: die globale Vision eines Zusammenlebens ohne Grenzen. Zwei Philosophien standen sich gegenüber, die Europäern nicht unvertraut sind: die von der Geborgenheit im eigenen Haus, innerhalb der eigenen ethnischen Gruppe - polemisch: im vertrauten Mief - und die Hoffnung auf ein Miteinander der Kulturen in einer weiten, toleranten Gesellschaft. Kurz: Hütte gegen Wolkenkratzer.
Vor fünfzehn Jahren stimmten die Quebecker schon einmal ab. Sie votierten für Kanada, auch damals, aber mit deutlicher Mehrheit. Damals versprachen Politiker in Kanadas Hauptstadt Ottawa, Konsequenzen zu ziehen: das Haus zu renovieren. Sie versuchten es, aber ohne Erfolg. Kanada war und ist ein Kontinent mit einer zentralistischen Regierung; es trägt am Erbe des Kolonialismus. Vielerorts fordern die Regionen mehr Unabhängigkeit von Ottawa. Nur nirgendwo so laut, so stur wie in Quebec.
Die Quebecker Separatisten haben es verstanden, ihren Traum von einem Frankreich auf amerikanischer Erde an eine Generation der Jungen weiterzureichen. Er ist am Montag nicht gestorben. Der Rücktritt des Premierministers von Quebec am Tag nach der Niederlage besiegelte nicht das Ende der Kampagne für "Le Quebec Libre". Jacques Parizeau reicht die Fackel nur weiter.
Wieder versprechen Politiker in Ottawa nun tiefgreifenden Wandel. Kanada werde besser werden, so daß niemand es verlassen muß. Diesmal müssen die Politiker liefern, was sie versprechen, sonst scheint es um Kanada geschehen.
Kanada braucht im Grunde eine neue Verfassung. Aber sie kommt nicht zustande ohne die Zustimmung aller Provinzen. Quebec wird von Separatisten regiert. Die wollen kein Apartement in einem neuen, wohnlicheren Haus. Sie wollen ein eigenes Land - ihr eigenes Chateau - und sehen sich dem großen Ziel näher denn je. Sie können und werden jeden Bauplan sabotieren, der aus Ottawa kommt. In den anderen Provinzen hält sich zudem die Lust in Grenzen, den Querköpfen aus Quebec mehr Platz im gemeinsamen Haus einzuräumen als allen anderen. Die Politiker in Ottawa sind fürwahr nicht zu beneiden.
Doch da ist etwas, das ihnen Mut machen sollte: Sie haben es mit Kanada zu tun und Kanadiern. über eine Frage von Sein oder Nichtsein stritt dieses Land mit großer Leidenschaft, aber eben nur mit Worten. Welch eine Wahlbeteiligung! Erwacht ist über die bittere Kampagne um das Referendum in Quebec ein bisher ungekanntes demokratisches Staatsgefühl, eine so nicht erwartete Liebe zu Kanada - Kanadas Werten -, gerade unter vielen jungen Menschen. Kaum zu glauben, daß eine Gesellschaft wie diese sehend in den Abgrund springt.