Amerika spielt Schwarzer Peter. Eine Woche nach den Unruhen von Los Angeles werden die Toten beerdigt, die Helden geehrt, die Trümmer besichtigt, vor allem aber: die Schuldigen gesucht. Die schlechtesten Karten hat derzeit Daryl Gates, der Polizeichef der Millionenstadt. Aber auch George Bush ist mit im Spiel und sogar ein längst Verstorbener, Amerikas Ex-Präsident Lyndon B. Johnson.
Die öberzeugung macht sich breit im Land, es wäre nicht zu Plünderungen, Mord und Totschlag gekommen, hätte nicht Gates seine Truppen im kritischen Moment zurückgepfiffen. Präsident Bush dagegen ortet die Wurzeln allen öbels in den Sozialprogrammen der sechziger Jahre. Sein vermutlicher Herausforderer von den Demokraten, Clinton, widerspricht. Er sagt, Bush und dessen Vorgänger Reagan seien schuld. Der Schwarze Peter macht die Runde.
Immerhin, über eines scheinen alle einig: Die Seelenlage der Nation hat sich binnen einer Woche schlagartig verändert. Die Bilder von Rodney King und von dem Lastwagenfahrer, der aus seinem Truck herausgezerrt und brutal geschlagen, getreten und beraubt wurde, haben sich eingebrannt ins kollektive Gedächtnis der Nation.
Mit Rodney King fing alles an. Der 27jährige Schwarze wurde im März vor einem Jahr von einer Polizeistreife in Los Angeles gestellt, weil er mit 125 Meilen pro Stunde durch die Stadt gerast war. Ein Videoamateur hielt zufällig fest, was danach geschah. 81 Sekunden lang prügelten vier weiße Polizisten mit ihren Schlagstöcken auf King ein, während der am Boden lag. Am Mittwoch letzter Woche wurden die Polizisten von der Anklage, sie hätten übermäßig brutal agiert, im wesentlichen freigesprochen. Von einer Geschworenen-Jury, die nur aus Weißen bestand. Stunden später standen die ersten Häuser und Geschäfte in Flammen.
Troy Jordan, Geschäftsführer eines Schnellimbisses in dem Viertel, wo die Unruhen ausbrachen, glaubt, die Flammen hätten im Keim erstickt werden können: "Aber die Polizei hat das Weite gesucht," sagt er.
Inzwischen ist belegt, daß die Polizei anfangs durchaus vor Ort war, bereit, Krawallen zu begegnen. Antoinne Thomas, 21, stand an der Straßpenecke nahe dem Imbiß von Jordan: "Es sah aus, als hätten sich die Polizisten auf Unruhen vorbereitet. Sie kamen aus ihren Wagen, sprachen mit den Leuten. Dann verschwanden sie." Zurück blieb eine aufgebrachte Menge.
Die Polizisten hatten über Funk die Weisung erhalten: "Raus hier! Alle. Raus! Sofort." Polizeichef Gates, nach eigenem Urteil ein "Mann der alten Schule", war zu diesem Zeitpunkt nicht im Präsidium, sondern auf einer politischen Cocktailparty. "Wir dachten, wir hätten bessere Menschen in unserer Stadt," war sein schlaffer Rechtfertigungsversuch. Sogar politische Freunde setzen sich inzwischen ab von dem Mann, dem vor kurzem noch Chancen bei der nächsten Bürgermeisterwahl eingeräumt wurden.
Auch die Chancen von George Bush, im November wiedergewählt zu werden als Präsident der Vereinigten Staaten, scheinen "nach L.A." gesunken zu sein. In Meinungsumfragen hat sein - noch nicht offiziell nominierter - demokratischer Herausforderer Bill Clinton Boden gutgemacht, wenigstens kurzfristig. Die Experten sind sich aber höchst unsicher, wie es im Herbst aussehen wird. Sie quält die Frage: Was wollen die Wähler jetzt, einen Sheriff im Weißen Haus, der Ruhe und Ordnung hochhält, oder einen Visionär, der Amerikas Gesellschaft eine neue Richtung weist?
Ist Sicherheit das erste Thema, dürfte Bush davon profitieren. Die Wähler trauen den konservativen Republikanern traditionell mehr Rauhbeinigkeit im Umgang mit dem Verbrechen zu als den liberalen Demokraten.
Wollen die Wähler aber, daß die Ursachen der Armut und der Verzweiflung bekämpft werden, die hinter den Unruhen steckten, könnte die Zukunft für George Bush düster aussehen.
Auch des Präsidenten Berater wissen im Moment nicht, was der Wähler wollen wird. Hin- und hergerissen kündigten sie zunächst eine große Bush-Rede über die Probleme der Innenstädte und Pläne zu deren Erneuerung an. Dann wurde die Rede wieder abgesagt. Die einzige Rede vor größerem Publikum während seines Trips nach Kalifornien hält Bush nun vor Angehörigen der Polizei und der Nationalgarde, um den Truppen für ihren Kampf gegen Flammen und Plünderer zu danken.
"Wofür steht Mr. Bush?" fragte die New York Times, die Antwort gleich mitliefernd: für nichts. "Mr. Bush ist seit drei Jahren im Amt, und wir wissen immer noch nicht, was ihm politisch am Herzen liegt, außer daß er unbedingt schlau genug sein will, auch die nächste Wahl zu gewinnen." Aber die New York Times ist eine Ostküstenzeitung, notorisch liberal gesinnt.
Wer einen politischen Gegner wirklich fertigmachen will in der USA, muß ihn nur als weichlichen Liberalen etikettieren, als Schwarmgeist, als Träumer von der "Großen Gesellschaft".
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