Er sah aus, wie sich viele den idealen Schwiegersohn denken. Adretter Anzug, Krawatte, ordentlich gekämmtes Haar: ein braver junger Mann. Tagelang stand er vor dem säulengeschmückten Obersten Gerichtshof der USA, gleich hinter dem Kapitol in Washington. Er stand da und war unüberhörbar. Ein Mikrofon und eine gewaltige Lautsprecherbox trugen seine Stimme weit über die Prachtstraße und durch die Parkanlage gegenüber. Eine erregte Stimme, eine zornige Stimme. "Jedes Jahr werden in den USA eineinhalb Millionen Kinder ermordet," sagte die Stimme und schilderte drastisch, wie ein Fötus aussieht, der im dritten Monat abgetrieben wird. Kein Richter, kein Spaziergänger, kein Autofahrer konnte dieser Stimme entkommen.
Seit Monaten demonstrierten sie in den USA, beide Seiten, für und wider das Recht auf Abtreibung. Die einen sind "pro life", für das Leben, die anderen "pro choice", für das Recht der Frau, selbst zu entscheiden. Sie demonstrierten vor Gerichten, vor Kliniken vor Supermärkten. (Die pro life-Seite, offensichtlich besser bei Kasse, ließ hochprofessionell gemachte Werbespots über die Bildschirme der Nation flimmern: bunte Bilder von glücklichen Kindern. Alle, erklärte ein Sprecher aus dem Off, waren ungewollt. Die sanfte Stimme des Sprechers fügte hinzu: "Manchmal sind die besten Entscheidungen im Leben ungeplant.")
Seit langem hat keine Nachricht aus Deutschland in den USA so viel Interesse gefunden wie die zum Û218. Kein Wunder: Amerika ist selbst tief gespalten über dem Streit, ob Abtreibung Mord ist oder allein Sache der Frau. 1973 hatte der oberste Gerichtshof entschieden: Sie ist Sache der Frau, jedenfalls in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft. Das Urteil "Roe versus Wade" war ein Meilenstein in der US-Rechtsgeschichte. Es machte kurzerhand Schluß mit einzelstaatlichen Gesetzen, die Abtreibungen bei Strafe verboten.
Jetzt hatte dasselbe Gericht erneut zu entscheiden. Der Staat Pennsylvania wollte Abtreibungen erschweren, durch Einführung eines Beratungszwangs, von Fristen und Meldepflichten. Der Oberste Gerichtshof war gefragt: Darf Pennsylvania das? Wenn ja, befürchteten Frauen- und Bürgerrechtler, könnte in manchen Staaten der USA bald wieder Jagd gemacht werden auf Frauen, die abgetrieben haben.
Das pro life-Lager dagegen hielt das alte Urteil von 1973 für himmelschreiendes Unrecht. Auch viele Bürger, die Abtreibung keineswegs wieder unter Straße stellen wollen, halten es für sündhaft leichtfertig, daß seit 1973 vielerorts keinerlei gesetzliche Hürden vor einer Schwangerschaftsunterbrechung aufgebaut sind.
(Gesetzliche Hürden nicht, faktische aber schon. Einer Studie des Alan Guttmacher Instituts zufolge finden Frauen in 93 vH aller ländlichen Regierungsbezirke der USA (Counties) keinen Arzt, der Abtreibungen vornimmt. Derselben Studie zufolge ist das auch in vielen Städten seit Anfang der achtziger Jahre erheblich schwerer geworden.)
Die Abtreibungsgesetzgebung ist Sache der Einzelstaaten. Der Oberste Gerichtshof, vergleichbar dem deutschen Bundesverfassungsgericht, setzt nur die Rechtsnormen. (Doch nicht selten boten seine Urteile die Handhabe, den geschichtlichen Gang der Dinge zu beschleunigen. Unter Berufung auf Verfassungsnormen setzte einst die Nationalgarde durch, daß schwarze Kinder in Schulen gehen können, die bis dato Weißen vorbehalten waren.)
Das pro life-Lager setzte darauf, daß sich die Zusammensetzung des Gerichts seit 1973 völlig geändert hat. Unter den Präsidenten Reagan und Bush wurden nur konservative Richter berufen. Richter, von denen sich Eiferer wie der junge Mann mit der großen Lautsprecherbox ein gottesfürchtiges Urteil erhofften.
Doch die Richter haben der Versuchung widerstanden. Statt das Rad der Geschichte zurückzudrehen, beließen sie es dabei, sachte gegenzusteuern. Salomonisch entschieden sie: Ja, der Staat hat ein Interesse daran, werdendes Leben zu schützen. Aber nein, er darf nicht einfach Abtreibung für ungesetzlich erklären. Pennylvania darf Fristen setzen und Beratungen vorschreiben, aber das heißt noch lange nicht, daß andere Staaten weiter gehen dürfen. Im Prinzip, entschied das Gericht, hat das Urteil von 1973 Bestand.
Das Gerichts versuchte sichtlich, den Riß zu kitten, der das Land in der Abtreibungsfrage entzweit. Umfragen zeigen: Der Streit pro life/pro choice geht quer durchs Land, quer durch die Parteien, ja nicht selten quer durch die Familien. Auch in ländlichen, stark religiös geprägten Landstrichen ist nicht selten eine Mehrheit, jedenfalls eine Mehrheit der Frauen, entschieden dagegen, Abtreibung erneut unter Strafe zu stellen.
Der republikanische Präsident Bush hat sich erst im Weißen Haus zum Abtreibungsgegner gemausert - und viele konservative Parteigänger argwöhnen, dies sei nicht seine wahre Meinung. Eine starke Minderheit in Bushs Partei ist entschieden pro choice und macht es den Republikanern schwer, Abtreibung zum wohlfeilen Wahlkampfthema zu machen.
Aber auch die Demokraten, traditionell pro choice, haben Probleme. Pennsylvania, in dessen ländlichen Teilen die Bibel das noch immer meistgelesene Buch ist, hat einen demokratischen Gouverneur. Robert Casey ist Katholik und Vater von acht Kindern. Seine Unterschrift unter das neue Pennsylvania-Abtreibungsrecht war Anlaß des Urteils. "Jemand mußte es tun," meinte Casey und rechtfertigte sich: "Die demokratische Partei war immer die Partei der Machtlosen. Ich glaube, niemand ist stummer und machtloser als ein ungeborenes Kind."
Kommentare sind geschlossen.
|
Loading Getty
Archiv
April 2020
Kategorien
Alle
DownloadsDie kompletten Jahrgänge DisclaimerViele
der hier verfügbaren Texte sind nicht end-redigiert. Sie können Fehler
enthalten, die in der Druckfassung korrigiert worden sind. Das trifft
insbesondere auf die Beiträge aus den Jahren 1992-2000 zu
(USA-Berichterstattung). Das Copyright zu allen hier verfügbaren Texten und
Fotos liegt beim Autor beziehungsweise bei den Fotografen. Wer Fotos oder
Texte, im Ganzen oder teilweise, kopieren oder sonstwie publizistisch verwenden
will, bedarf dazu der ausdrücklichen Einwilligung des Autors beziehungsweise
des Fotografen. |