Uwe Knüpfer
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Lasst uns die Demokratie feiern!

23/4/2025

 
Feiertage:Karfreitag? Ab an die Arbeit!
Einen Feiertag abschaffen? Arbeitgeber sind dafür, Gewerkschaften dagegen. Doch warum nur einen? Statt religiöser Feste sollten wir die Demokratie feiern.

 
Wofür gibt es Feiertage? Aus zwei Gründen. Erstens, weil es guttut, von Zeit zu Zeit „auf andere Gedanken zu kommen“ und uns vom Alltagsstress zu erholen. Das ist der gewerkschaftliche Grund. Zweitens: Feiertage stiften oder bekräftigen Identität.
Feiertage erzählen eine – im Idealfall „unsere“ – Geschichte. An Feiertagen versammeln „wir“ uns hinter einer Idee, die uns eint – oder einen soll. Als Gesellschaft, als Christenheit, als Belegschaft eines Betriebes.
Doch was verbindet uns, also die Bewohner der Bundesrepublik Deutschland, miteinander? Offenbar nicht viel, wenn man dem Nachrichtengewitter und dem Geplärre in den sozialen Medien Glauben schenkt. Als tief gespalten und vielfach zersplittert beschreiben Sozialwissenschaftler unsere Gesellschaft, als segmentiert und fragmentiert.
Hier kommen, besser: hier kämen Feiertage ins Spiel. Doch was sollten wir an Feiertagen feiern, gemeinsam? Wir, die Bürger einer offenen, demokratischen, friedlichen Gesellschaft? Ganz einfach: die offene, demokratische, friedliche und keineswegs selbstverständliche Gesellschaft, in der wir aufgewachsen oder der wir zugewandert sind. Doch mit den Feiertagen, die wir haben, wird das nicht gelingen. Neue Feiertage braucht das Land!
Denn im „christlichen Abendland“ war es seit Menschengedenken ja doch nur die Kirche, die den im Kalender abgebildeten Lauf des Jahres zur Dauererzählung der stilisierten Lebensgeschichte Jesu nutzte – und vor allem zur Legitimierung ihrer eigenen Existenz, Bedeutung und Macht.
Diese Erzählung lässt das christliche Jahr beginnen mit der Feier von Marias angeblich unbefleckter Empfängnis (am 8. Dezember; das Fest bezieht sich auf Maria selbst, die „unbefleckt“, also frei von Erbsünde, empfangen worden sei), sowie der darauf folgenden Geburt des Christuskindes (24. Dezember ff.) und dem überraschend zügigen Eintreffen der Heiligen Drei Könige (6. Januar). Im März/April folgen Christi Kreuzigung (Karfreitag), Wiederauferstehung (Ostern), Himmelfahrt und das ersatzweise Erscheinen des Heiligen Geistes (Pfingsten).
Damit der Rest des Jahres nicht frei von Besinnung auf die frohe Botschaft und die strengen Regeln der Kirche bleibt, folgen Fronleichnam, Mariä Himmelfahrt, Allerheiligen und der Buß- und Bettag, mindestens. 2017 ist es den Lutheranern gelungen, im Kanon der staatlich sanktionierten Feiertage am 31. Oktober noch den Reformationstag dazwischenzuschieben.
Dieser Festkalender erinnert uns daran, dass die Macht der Kirche hierzulande jahrhundertelang – eben „seit Menschengedenken“ – alle Lebensbereiche prägte und durchdrang, vom Privatesten wie Partnerwahl und Erziehung bis zur Wahl und Krönung von Königen und Kaisern. Hinter uns gelassen haben wir dieses Joch der fürsorglichen Bevormundung erst dank Aufklärung, Revolution und Säkularisation.
Die Säkularisation bedeutete eine gewaltige Umverteilung von Eigentum und Macht und zugleich die Trennung von Staat und Kirche. Doch sie ist in Deutschland unvollständig geblieben. Davon zeugen kirchlich beglaubigte Ehen, Kirchensteuer, Konkordate – und fast alle Feiertage.
Gut, einige Feiertage haben sich im Zuge gesellschaftlicher Umbrüche zusätzlich in den Kalender eingeschlichen: der Tag der Arbeit am 1. Mai und der Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober, auch der Volkstrauertag. Neujahr kann man sehen als ein Relikt vorchristlicher Zeiten; Zeiten, in denen sich der Rhythmus des Kalenders noch an den der Natur anlehnte.
Feiertage stiften Identität. Sie dienen, gerade auch indem sie das Eigene abgrenzen vom anderen, der mal bewussten, mal stillschweigenden Herstellung von Übereinkunft, von Gemeinsamkeit, von einer Gewissheit der Geborgenheit des Ichs im Wir.
Warum ehren wir nicht Märtyrer der Demokratie, die ihr Leben gegeben haben?
Genau daran fehlt es unserer Republik. Wenn wahr ist, dass es nicht reicht, Gutes zu tun, man müsse darüber auch reden, ist nicht weniger wahr, dass es nicht reicht, eine Republik auszurufen, eine Verfassung zu verabschieden, Institutionen zu gründen und alle paar Jahre Wahlurnen aufzustellen, um sicherzustellen, dass die Güte, die Kostbarkeit, die Verletzlichkeit einer Demokratie auch allgemein und dauerhaft geschätzt wird – von denen, die sie mit Leben erfüllen müssen: den Bürgern.
Warum nicht von der Kirche lernen? Mit dem Blick darauf, wie es ihr gelungen ist, ihre Erzählung zur „abendländischen“ zu machen, mindestens wolkig präsent selbst in atheistischen Hirnen?
Ähnlich wie die katholische Kirche ihre Märtyrer als Heilige verehrt, sollte unsere Republik jene Demokraten ehren und immer wieder in Erinnerung bringen, die sie erst möglich werden ließen, diese Republik. Viele von ihnen haben, Märtyrer der Demokratie, ihr Leben dafür gegeben, dass wir heute wählen gehen dürfen, immer mal wieder. Schenken wir ihnen dafür, als Garant des Nichtvergessens, Tage im Kalender, jedem und jeder einen eigenen!
Gelegentlich wird darüber debattiert, den christlichen Feiertagen auch noch islamische zuzugesellen, dann konsequenterweise auch jüdische, irgendwann wohl hinduistische. Schon im Interesse der Gleichbehandlung aller Religionen. Nein! Richtiger ist es, auch im Interesse der Gleichbehandlung aller Religionen, die gesetzlichen Feiertage zu säkularisieren, alle.
Niemand soll daran gehindert sein, Mariä Himmelfahrt, Pfingsten, den Ramadan oder das Pessachfest zu feiern. Aber: privat. So wie es sich einer säkularen Gesellschaft gebührt.
Allgemeine, gesetzliche Feiertage sollten wir, die Bürger der Bundesrepublik Deutschland, dazu nutzen, die Geschichte der Demokratie, unserer Demokratie zu erzählen, uns ihres Wesens und ihres Wertes zu vergewissern, rituell, immer wieder, auf dass die Erinnerung eine kollektive werde. Anlässe dafür gibt es genug, das ganze Jahr hindurch und alle Jahre wieder:
Der 19. Januar könnte der Tag des allgemeinen und gleichen Wahlrechts sein. Am 19. Januar 1919 haben erstmals auch die Frauen in Deutschland wählen dürfen.
Am 6. März 1525 waren süddeutsche Bauern so mutig, auf dem Marktplatz von Memmingen in zwölf Artikeln die Grundsätze einer Gesellschaft vor Gott und dem Gesetz gleicher Menschen zu beschreiben und einzufordern. „Ist es unbrüderlich und dem Wort Gottes nicht gemäß, dass der arme Mann nicht Gewalt hat, Wildbret, Geflügel und Fische zu fangen“, fragten sie und wollten künftig ihren Pfarrer selbst erwählen. Bestaunt und vieltausendfach gedruckt und kopiert wurden diese zwölf Artikel, anderswo um weitere ergänzt. Brutalstmöglich niedergeschlagen wurde der Aufstand der Bauern, auf dass sich nie wieder jemand traue, den eigenen Kopf zu erheben und das angebliche Gottesgnadentum der Mächtigen infrage zu stellen. Der obrigkeitsstaatliche Terror tat seine Wirkung, doch die Idee verbriefter Menschen- und Freiheitsrechte ist seither, seit einem halben Jahrtausend jetzt, in der deutschsprachigen Welt. Wie wäre es mit einem Feiertag der zwölf Memminger Artikel am 6. März?
Bald danach könnten wir uns der Menschen erinnern, vor denen sich Preußens König verbeugte, am 18. März 1848, nicht aus Überzeugung, sondern aus Angst, aber immerhin. Bürger Berlins, reichere und ärmere, forderten an diesem Tag die Schaffung einer deutschen Republik. Es waren so viele, dass des Königs Soldaten ihrer nicht mehr Herr werden konnten, trotz Waffengebrauchs, jedenfalls nicht sofort. Sie glimmt damals auf, die Idee der Republik, der Demokratie.
Den Tag der Arbeit am 1. Mai sollten wir beibehalten. Er wurde geschaffen, nicht damit ein kleiner, frierend zusammenrückender Haufen von Gewerkschaftsfunktionären die Legitimität aktueller Tarifforderungen floskelhaft aufs Neue beschwört, sondern um einfordernd zu bekunden, dass Menschen, die nichts zu verkaufen haben als ihre Arbeitskraft, ihr Talent und ihre Tüchtigkeit, die gleichen Rechte haben wie Junker oder, sagen wir, Hedgefonds-Manager und reiche Erben.
Der 23. Mai müsste längst ein Feiertag sein, mit einer Bedeutung für uns Deutsche und alle, die es werden wollen, mindestens, wie der vierte Tag des Juli eine Bedeutung hat für die USA oder der 14. Juli für die Franzosen. Er ist der Tag des Grundgesetzes. Allein schon dessen erster Satz ist es wert, von jedem Deutschen, sobald er oder sie sprechen kann, rezitiert werden zu können, selbst im Schlafe: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Am 23. Mai 1949 wurde es „erlassen“, das Grundgesetz, am Tag darauf trat es in Kraft, das ideelle Fundament der bisher mit großem Abstand besten und festesten staatlichen Ordnung in der Weltgegend, die wir heute Deutschland nennen.
Wir könnten dann gleich vier Tage durchfeiern. Denn der 27. Mai gäbe einen schönen Tag der Pressefreiheit ab. Zum Thema Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit ließe sich in geselliger Runde viel erzählen und bedauern und leider jedes Jahr Neues. Zunächst aber ließe sich erinnernd feiern, nämlich wie 1832, als Fest getarnt, eine Ruine in der Pfalz zum Schauplatz der ersten Massendemonstration auf deutschem Boden wurde, zu einer Demonstration gegen die Zensur, also für die freie Presse und dann folgerichtig gleich für freie Gesellschaften gleicher Bürger in allen deutschen Ländern, ja in ganz Europa. Das Schloss, damals Ruine, der Ort des Hambacher Festes, der zwischenzeitlichen Vergessenheit und adligem Eigentum glücklicherweise, aber keineswegs zufällig, wieder entrungen, existiert immerhin schon als klug und unterhaltsam ausstaffierter Erinnerungsort.
Schon beim Fest in Hambach wurde die Vision der Vereinigten Staaten von Europa beschworen, zu einer Zeit mithin, als diese noch in sehr, sehr weiter Ferne lagen. Abermillionen Menschen starben seither in immer brutaler werdenden Kriegen, für irgendwelche „Vaterländer“, für Könige und Führer, Volk oder auch La Patrie, bevor, im buchstäblich ausgebluteten Europa, am 23. Juli 1952 mit dem Inkrafttreten des EGKS-Vertrages der Grundstein dessen gelegt wurde, was heute Europäische Union heißt – und wieder einsturzgefährdet ist. Der 23. Juli könnte der Tag Europas sein oder wenigstens der europäischen Idee. Auf dass sie strahle und niemals erlischt!
Jeder 9. November sollte uns alle daran erinnern, was demokratische Freiheiten bedeuten
Im traurigen Monat November hat der säkulare Staat, immerhin, sich schon seine Variante zu Allerheiligen, Allerseelen und Totensonntag geschaffen. Der Volkstrauertag war ursprünglich als Tag der Erinnerung an „gefallene“ deutsche Soldaten gedacht, seit 1952 dient er dem Gedenken an den Tod aller Opfer von Kriegen und Gewaltherrschaft, ja Gewaltbereitschaft, damit also auch von Terror und Unterdrückung. Aus diesem einstigen Tag der heldenkultischen Verklärung von Nationalismus und Kriegen einen offiziellen deutschlandweiten Feiertag zu machen, so tapfer und selbstbewusst war unsere Republik bis heute nicht. Er könnte künftig auf den 9. November gelegt werden statt auf wechselnde Sonntage.
Denn natürlich muss der 9. November ein Feiertag werden. Als Tag des Volkes, als Tag der Demokratie und der Trauer. Ob neben dem oder anstelle des 3. Oktober, als Tag der Deutschen Einheit, sei munteren Debatten überlassen. An einem 9. November wurde die erste gesamtdeutsche Republik ausgerufen, 1918. An einem 9. November ließen Bürger der DDR die Mauer Mauer sein, 1989. Sie enttarnten des SED-Kaisers neue Kleider, der Eiserne Vorhang, der Menschen ja nicht nur am Reisen und Verwandtenbesuchen gehindert hatte, sondern auch an selbstbewusstem Handeln in eigener Verantwortung, brach vor dem Ansturm des unbewaffneten Volkes zusammen.
Es lässt den Tag der Demokratie kein bisschen weniger strahlen, wenn wir uns am selben Tag auch daran erinnern, was ebenfalls an einem 9. November geschah. Am 9. November 1938 steckten deutsche Horden die Synagogen ihrer jüdischen Mitbürger in Brand. Am 9. November 1923 hatte der Anführer dieser Horden erstmals versucht, die Macht in Deutschland zu ergreifen, einstweilen noch vergeblich, ein gewisser Adolf Hitler. Jeder 9. November sollte uns alle daran erinnern, was demokratische Freiheiten bedeuten. Und dass sie nicht vom Himmel gefallen sind. Und dass sie jederzeit gefährdet sind.
Wenn es dann Zeit ist für Glühwein, Lebkuchen und Adventssterne, sollten wir uns gemeinsam daran erinnern, wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zu uns gefunden hat. Am 10. Dezember 1948, noch schwelten, jedenfalls gedanklich, die Trümmerhaufen des weltumspannenden Krieges, stimmten Vertreter von 48 Staaten in Paris für ihre Verkündung. Acht Staaten, auch das sollte nicht vergessen werden, enthielten sich. Es gleicht ohnehin einem Wunder, dass es nur acht gewesen sind. Heute wären es womöglich mehr, deren Autokraten und sonstige Machteliten mit einem Satz wie diesem nichts, aber auch rein gar nichts anzufangen wissen: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Den Memminger Bauern hätte der Satz wohl gefallen.
Die Abgeordneten des frisch konstituierten Deutschen Bundestages sollten selbstbewusst genug sein, allen Demokraten, lebenden wie toten, heutigen wie künftigen – und damit sich selbst und allen Bürgern der deutschen Bundesrepublik – ein Geschenk zu machen: eine republikanische Feiertagsordnung. Nur Mut!

Süddeutsche Zeitung, 17. April 2025

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