Im Kampf gegen die explodierenden Gesundheitskosten greifen immer mehr Einzelstaaten der USA reumütig auf alte Rezepte zurück. Sie verabschieden Gesetze und installieren Behörden, legen staatliche Gesundheitspläne auf. Die Erkenntnis greift um sich: In Wartezimmern und auf Operationstischen versagt die freie Marktwirtschaft.
Die USA leisten sich das teuerste - und womöglich auch das beste - Gesundheitssystem der Welt. Nicht erst seit heute. Seit mehr als zwanzig Jahren steigen die Kosten für Medikamente, medizinische Geräte, Krankenhäuser und érzte stärker als die allgemeinen Lebenshaltungskosten. Mit dem Effekt, daß in wirtschaftlichen Krisenzeiten wie jetzt die Zahl derer rapide steigt, die sich eine angemessene Behandlung nicht mehr leisten können. Denn Versicherungsschutz genießt nur,
- wer das Glück hat, bei einem großen Unternehmen beschäftigt zu sein, das seinen Mitarbeitern eine Art Betriebskrankenkasse gönnt,
- wer genug verdient, sich - teuer - privat zu versichern, oder
- wer arbeitslos oder sehr arm und alt ist; ihm helfen Medicare und Medicaid, staatliche Gesundheitsprogramme für die sozial schwächsten der Gesellschaft, öberbleibsel des in den sechziger Jahren gestarteten "Kriegs gegen die Armut" im Lande.
Eine wachsende Zahl von Amerikanern zählt zu keiner dieser Gruppen. Die amerikanische Middle-class-Durchschnittsfamilie ist ruiniert, wenn einer von ihnen ernsthaft krank wird und für Zehntausende von Dollars operiert werden muß.
Ronald Reagan und George Bush sind 1981 angetreten, den Kostenrausch der Medizinindustrie zu beenden. Sie demontierten die Gesundheitsbürokratie, schlugen Schneisen in das gewachsene Netz staatlicher und kommunaler Behörden, die bis dato Pläne entwarfen, wo wieviele Krankenhausbetten welcher Güte benötigt würden.
Die republikanischen Politiker, die soeben Jimmy Carter und dessen Demokraten aus dem Weißen Haus vertrieben hatten, rechneten der Nation vor, daß allein der aufgeblähte Planungsapparat jährlich rund 150 Mio Dollar kostete. Dollars, die man sparen könnte. Der Apparat wurde zerschlagen, an seine Stelle trat der freie Markt.
"Wir dachten, daß auch das Gesundheitswesen auf den Prinzipien von Angebot und Nachfrage aufbaut," blickt David Brickley zurück, Abgeordneter im Parlament von Virginia, "wir dachten, wenn mehr medizinische Geräte verfügbar sind, müßten die Preise für deren Benutzung fallen." Verblüffenderweise geschah das Gegenteil. Brickley: "Heute haben wir mehr Geräte als je zuvor, sie sind nicht ausgelastet, und die Kosten sind höher denn je."
Als Reagan die 150 Millionen Dollar Bürokratenkosten sparen wollte, kostete das US-Gesundheitswesen pro Jahr 290 Milliarden Dollar. Zehn republikanische Regierungsjahre später waren es 738 Mrd Dollar. 1992 werden die Kosten nach Regierungs-Schätzungen auf ca. 817 Mrd Dollar klettern. Das wäre ein Anstieg in Jahresfrist um elf vH, um mehr als das doppelte der Inflationsrate.
Während das Weiße Haus unter George Bush nach wie vor nicht daran denkt, zu Planungsmethoden von gestern zurückzukehren, vollziehen immer mehr Einzelstaaten im Alleingang eine Kehrtwende. In Virginia brauchen Krankenhäuser, die Computertomographen oder Nierensteinzertrümmerer anschaffen wollen, neuerdings wieder eine staatliche Genehmigung. Binnen nur zweier Jahre ohne staatliche Aufsicht hatte sich die Zahl solch teurer High-Tech-Apparaturen in den Hospitälern des Staates rundweg verdoppelt.
New Jersey hat die Kosten für Investitionen in Krankenhäusern limitiert; mehr als 225 Mio Dollar pro Jahr dürfen dafür im ganzen Staat nicht ausgegeben werden. Der Gouverneur von Kentucky hat einen einjährigen Ausgabenstopp für Neuanschaffungen verfügt. Während dieser Zeit soll ein Gesundheitsplan ausgearbeitet werden. In Georgia brauchen Krankenhäuser, die Geräte mit einem Wert von mehr als 500000 Dollar anschaffen wollen, wieder eine Notwendigkeitsbescheinigung der staaatlichen Gesundheitsplanungsbehörde.˙ Und der Gouverneur von Colorado, Roy Romer, gestand vor seinem Landesparlament rundweg ein: "1987 haben wir auf Notwendigkeitsbescheinigungen für medizinische Investitionen verzichtet. Ich denke, das war ein Fehler."
Ein 30jähriger im Bündnis mit einem 241jährigen erregen derzeit Washington. Eigentlich aber steckt ein Lehrer dahinter.
Gregory T. Watson, Assistent eines Kongreß-Abgeordneten, fühlte sich "auf Wolke neun". Sein Verbündeter, James Madison, blieb stumm. Der vierte Präsident der Vereinigten Staaten (von 1809 bis 1817) weilt schon lange im Walhall der amerikanischen Gründungsväter. Seine derzeit lebenden Nachfolger auf Washingtons politischer Bühne, Watsons Brötchengeber, waren dafür umso mehr aus dem Häuschen.
Was war geschehen? Die Staaten Michigan und New Jersey hatten einem Verfassungszusatz zugestimmt, den Madison einst formuliert hatte. Der Autor der US-Bürgerrechte hielt es nicht für richtig, daß gewählte Abgeordnete sich selbst ihre Bezüge verbessern können. Deshalb wollte er unauslöschlich in den Grundstein der amerikanischen Rechtsordnung die Worte meißeln: "Kein Gesetz, das die Diätenregelung für Senatoren und Abgeordnete verändert, darf in Kraft treten, bevor nicht eine Neuwahl der Volksvertreter stattgefunden hat."
Nach amerikanischem Recht müssen mindestens 38 Einzelstaaten einem Verfassungszusatz zustimmen, damit er rechtskräftig wird. Madisons Selbstbeschränkungsregel wäre der 27. Zusatz, der das geschafft hätte. Hätte, wäre - denn noch wollen es die Politprofis vom Potomac nicht glauben, daß ihnen ein 30jähriger und ein 241jähriger in die Suppe spucken können. Der Sprecher des Abgeordnetenhauses, Demokrat Thomas Foley, erinnerte an ein "allgemeines Prinzip", wonach die Zustimmung binnen sieben Jahren zu erfolgen hat, oder der Zusatz gilt als gescheitert.
Das stimmt, mußte sich Foley entgegenhalten lassen, nur: Als Madison den nämlichen Zusatz auf den Weg brachte, gab es diese zeitliche Begrenzung noch nicht. Nun muß wohl der Kongreß entscheiden, ob Madison und Watson Erfolg haben sollen oder nicht. Er selbst habe natürlich nichts gegen die Selbstbeschränkungsregel an sich, fügte Foley eilig hinzu. Mit dem Instinkt des Profis, daß die Regel beim Wahlbürger populär sein könnte.
US-Abgeordnete beziehen derzeit knapp 130000 Dollar pro Jahr (rund 215000 DM). Zuletzt haben sie sich ihre Diäten Ende 1991 erhöht, unter Umständen, die in der amerikanischen ôffentlichkeit, gelinde gesagt, Mißfallen erregt haben. Die Entscheidung fiel in einer Nacht-und Nebel-Sitzung. Seit kurz danach noch ruchbar wurde, daß viele Abgeordnete jahrelang ihre Konten bei der eigens für Volksvertreter installierten Bank des Capitols gebührenfrei überzogen haben, sind die Parlamentarier in der öffentlichen Meinung vollends unten durch. Watson könnte so zum Volksheld werden.
Dem Madison-Zusatz hatten bis 1791 nur sechs Staaten zugestimmt, dann war er in Vergessenheit geraten. Auch damals war eben nicht jeder Abgeordnete so wie Madison ein wohlhabender Plantagenbesitzer, nicht angewiesen auf öffentliche Alimentation.
1873 stimmte Ohio dem Verfassungszusatz zu. Damit waren es sieben. 1978 kam Wyoming hinzu, und dann trat Watson auf den Plan. Eigenhändig schrieb er die Gesetzgeber in den Einzelstaaten an. 6000 Dollar, sagt Watson, habe er seither in die Schreiberei und Porto investiert. Mit dem Erfolg, daß zunächst Maine zustimmte, 1983, und dann ging es Schlag auf Schlag. Michigan, am Donnerstag dieser Woche, war der entscheidende, der 38. Staat.
Was Watson aber am meisten freut: Vor zehn Jahren hat er in einer studentischen Seminararbeit erstmals behauptet, Madisons Verfassungszusatz sei wiederbelebbar. Sein Professor war anderer Meinung, gab dem jungen Mann eine mäßige Note und weckte damit dessen Ehrgeiz. Jetzt hat es Watson nicht nur dem Kongreß, sondern vor allem seinem alten Lehrer gezeigt.
Amerika spielt Schwarzer Peter. Eine Woche nach den Unruhen von Los Angeles werden die Toten beerdigt, die Helden geehrt, die Trümmer besichtigt, vor allem aber: die Schuldigen gesucht. Die schlechtesten Karten hat derzeit Daryl Gates, der Polizeichef der Millionenstadt. Aber auch George Bush ist mit im Spiel und sogar ein längst Verstorbener, Amerikas Ex-Präsident Lyndon B. Johnson.
Die öberzeugung macht sich breit im Land, es wäre nicht zu Plünderungen, Mord und Totschlag gekommen, hätte nicht Gates seine Truppen im kritischen Moment zurückgepfiffen. Präsident Bush dagegen ortet die Wurzeln allen öbels in den Sozialprogrammen der sechziger Jahre. Sein vermutlicher Herausforderer von den Demokraten, Clinton, widerspricht. Er sagt, Bush und dessen Vorgänger Reagan seien schuld. Der Schwarze Peter macht die Runde.
Immerhin, über eines scheinen alle einig: Die Seelenlage der Nation hat sich binnen einer Woche schlagartig verändert. Die Bilder von Rodney King und von dem Lastwagenfahrer, der aus seinem Truck herausgezerrt und brutal geschlagen, getreten und beraubt wurde, haben sich eingebrannt ins kollektive Gedächtnis der Nation.
Mit Rodney King fing alles an. Der 27jährige Schwarze wurde im März vor einem Jahr von einer Polizeistreife in Los Angeles gestellt, weil er mit 125 Meilen pro Stunde durch die Stadt gerast war. Ein Videoamateur hielt zufällig fest, was danach geschah. 81 Sekunden lang prügelten vier weiße Polizisten mit ihren Schlagstöcken auf King ein, während der am Boden lag. Am Mittwoch letzter Woche wurden die Polizisten von der Anklage, sie hätten übermäßig brutal agiert, im wesentlichen freigesprochen. Von einer Geschworenen-Jury, die nur aus Weißen bestand. Stunden später standen die ersten Häuser und Geschäfte in Flammen.
Troy Jordan, Geschäftsführer eines Schnellimbisses in dem Viertel, wo die Unruhen ausbrachen, glaubt, die Flammen hätten im Keim erstickt werden können: "Aber die Polizei hat das Weite gesucht," sagt er.
Inzwischen ist belegt, daß die Polizei anfangs durchaus vor Ort war, bereit, Krawallen zu begegnen. Antoinne Thomas, 21, stand an der Straßpenecke nahe dem Imbiß von Jordan: "Es sah aus, als hätten sich die Polizisten auf Unruhen vorbereitet. Sie kamen aus ihren Wagen, sprachen mit den Leuten. Dann verschwanden sie." Zurück blieb eine aufgebrachte Menge.
Die Polizisten hatten über Funk die Weisung erhalten: "Raus hier! Alle. Raus! Sofort." Polizeichef Gates, nach eigenem Urteil ein "Mann der alten Schule", war zu diesem Zeitpunkt nicht im Präsidium, sondern auf einer politischen Cocktailparty. "Wir dachten, wir hätten bessere Menschen in unserer Stadt," war sein schlaffer Rechtfertigungsversuch. Sogar politische Freunde setzen sich inzwischen ab von dem Mann, dem vor kurzem noch Chancen bei der nächsten Bürgermeisterwahl eingeräumt wurden.
Auch die Chancen von George Bush, im November wiedergewählt zu werden als Präsident der Vereinigten Staaten, scheinen "nach L.A." gesunken zu sein. In Meinungsumfragen hat sein - noch nicht offiziell nominierter - demokratischer Herausforderer Bill Clinton Boden gutgemacht, wenigstens kurzfristig. Die Experten sind sich aber höchst unsicher, wie es im Herbst aussehen wird. Sie quält die Frage: Was wollen die Wähler jetzt, einen Sheriff im Weißen Haus, der Ruhe und Ordnung hochhält, oder einen Visionär, der Amerikas Gesellschaft eine neue Richtung weist?
Ist Sicherheit das erste Thema, dürfte Bush davon profitieren. Die Wähler trauen den konservativen Republikanern traditionell mehr Rauhbeinigkeit im Umgang mit dem Verbrechen zu als den liberalen Demokraten.
Wollen die Wähler aber, daß die Ursachen der Armut und der Verzweiflung bekämpft werden, die hinter den Unruhen steckten, könnte die Zukunft für George Bush düster aussehen.
Auch des Präsidenten Berater wissen im Moment nicht, was der Wähler wollen wird. Hin- und hergerissen kündigten sie zunächst eine große Bush-Rede über die Probleme der Innenstädte und Pläne zu deren Erneuerung an. Dann wurde die Rede wieder abgesagt. Die einzige Rede vor größerem Publikum während seines Trips nach Kalifornien hält Bush nun vor Angehörigen der Polizei und der Nationalgarde, um den Truppen für ihren Kampf gegen Flammen und Plünderer zu danken.
"Wofür steht Mr. Bush?" fragte die New York Times, die Antwort gleich mitliefernd: für nichts. "Mr. Bush ist seit drei Jahren im Amt, und wir wissen immer noch nicht, was ihm politisch am Herzen liegt, außer daß er unbedingt schlau genug sein will, auch die nächste Wahl zu gewinnen." Aber die New York Times ist eine Ostküstenzeitung, notorisch liberal gesinnt.
Wer einen politischen Gegner wirklich fertigmachen will in der USA, muß ihn nur als weichlichen Liberalen etikettieren, als Schwarmgeist, als Träumer von der "Großen Gesellschaft".
Gerade hat sich in den USA die Erkenntnis verbreitet, daß Deutschlands Wiedervereinigung ein teures Abenteuer ist, da verblüfft die Nachricht, daß die deutschen Arbeiter und Angestellten für höhere Einkommen und mehr Freizeit streiken.
Gebetsmühlenhaft jammern Bonner Politiker, die Washington besuchen, der hiesigen Öffentlichkeit vor, welch gewaltige Lasten auf den deutschen Staatshaushalt zugekommen sind. Die Botschaft wurde begriffen: Aha, die Deutschen müssen den Gürtel enger schnallen. Wie, und jetzt wollen sie ihn stattdessen ein Loch weiter stecken?
Offiziell sagt in Washington niemand ein schlechtes Wort über Kanzler Helmut Kohl. Inoffiziell gehört es inzwischen zum gesicherten Wissen aller Insider, daß der Kanzler einen Kardinalfehler begangen hat, als er seinen Landsleuten versprach, niemandem werde es schlechter gehen nach der Vereinigung mit der DDR. Vielleicht, so hört man unter der Hand, wäre es zum diesem Streik ja nicht gekommen, hätte die Regierung früher klargemacht, daß alle Opfer bringen müssen.
Amerikaner vernehmen mit Kopfschütteln, daß der deutsche Werktätige alles in allem zwei Monate im Jahr frei hat; durch Urlaub und Feiertage. Und daß an Wochenenden sowieso niemand arbeitet. Das fällt schwer zu begreifen in einem Land, wo sich glücklich schätzen kann, wer zwei Wochen Jahresurlaub hat. Und wo es als selbstverständlich empfunden wird, auch an Sonntagen einkaufen zu gehen.
Daß die Deutschen es trotzdem schaffen, wirtschaftlich die Nummer Eins in Europa zu sein, grenzt aus amerikanischer Sicht an ein Wunder. Bill Clinton, der vermutliche Präsidentschaftskandidat der Demokraten, nutzt das als Wahlkampfmunition. An Deutschland könne Amerika lernen, daß Sozialstaatlichkeit und Wirtschaftkraft keine Gegensätze sind, predigt Clinton allerorten seinem Publikum.
Aus amerikanischer Sicht bietet der Arbeitskampf zusammen mit dem Genscher-Rücktritt und dem Gerangel um dessen Nachfolge das alarmierende Bild eines taumelnden Giganten. Womit weniger der Wirtschaftsriese Deutschland gemeint ist, den kaum jemand ernstlich in Gefahr sieht, als dessen Bundeskanzler. Staunend sieht man, wie rasch die Autorität Helmut Kohls zerfällt. Und Schlagzeilen macht, daß die Flughäfen blockiert sind.
Gorbatschow mit großem weißem Stetson auf dem Kopf - die Amerikaner nehmen es mit Genugtuung auf und mit Humor. Der Stetson, die Luxusvariante eines Cowboyhutes, ist das Erkennungszeichen texanischer ôlbarone und der rechten, unternehmerischen Gesinnung. Was mag sich der frühere US-Präsident Ronald Reagan gedacht haben, als er den Gorbatschows zur Begrüßung auf seiner kalifornischen Ranch ausgerechnet zwei Exemplare dieses ausladenden Kopfschmucks verehrte? "Wir haben lange auf diesen Augenblick gewartet," sagte Reagan, ganz Pokerface.
Für Reagan war die Sowjetunion einst schlicht das Reich des Bösen. Böse tragen in Cowboyfilmen immer schwarze Hüte.
Gorbatschow darf sich jetzt aufgenommen fühlen in den Club der Guten. Amerika empfängt ihn mit offenen Armen, wenn auch nicht mit jener Begeisterung, die den einstigen Kreml-Herrn neulich in Deutschland von Bonn über Neuschwanstein nach Hamburg und Gütersloh begleitete. Gorbatschow wünscht sich vor allem, daß ihn die amerikanische Geschäftswelt mit offenen Brieftaschen empfängt.
Für ein Essen mit ihm und Reagan sollen Teilnehmer 5000 Dollar bezahlen. Freilich bekommen sie dann auch ein signiertes Foto der zwei Staatsmänner, die, so die Ankündigung, "den kalten Krieg beendet haben".
Ein kalifornischer Geschäftsmann namens James Garrison hat Gorbatschows 14-Tage-Trip durch die Staaten organisiert. Garrison gilt als Experte für das Vermarkten abgedankter Berühmtheiten. Hinter ihm oder jedenfalls auf dem Briefkopf stehen illustre Namen wie die der ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger und George Shultz. Arthur Hartman, einst US-Botschafter in Moskau, ließ sich von der Liste streichen. Er helfe nicht mit, Geld für einen Ausländer auftreiben, ohne genau zu wissen, was mit dem Geld gemacht wird, teilte Hartman mit.
"Gorbis" Geldsammelmethoden im Interesse seiner Moskauer Stiftung interessieren hierzulande bislang mehr als die Frage, welche Botschaft er wohl mitbringt. Am Mittwoch will Gorbatschow sie verkünden, im Westminster College in Missouri. Am gleichen Ort, an dem Winston Churchill 1946 jene berühmte Rede hielt, mit der er das Bild vom "Eisernen Vorhang" prägte; die Kampfansage des freien Westens an die Sowjetunion, die bis dato als Verbündeter galt, als Alliierter im Kampf gegen Hitler-Deutschland.
Der Anspruch, der hinter einer solchen Planung steckt, scheint Amerikanern vermessen. Wer ist Gorbatschow?, fragen viele. Schließlich regiert im Kreml heute ein anderer, Boris Jelzin. Abgedankte haben wenig zu sagen in Amerika, Verlierer gar nichts. Ein Held des Rückzugs, wie Hans Magnus Enzensberger Gorbatschow betitelte, kommt in der amerikanischen Sagenwelt nicht vor.
Daß er Geld verdienen will, gut. Das will jeder. Daß Raissa Gorbatschowa staunend vor Ronald Reagans privater Zapfsäule stand - "Und bei uns zuhause stehen die Menschen Schlange für Benzin." -, umso besser. Daß wohlhabende Amerikaner die Gelegenheit nutzen, sich mit einer Berühmtheit von gestern zusammen fotografieren zulassen, nun, das ist menschlich. Aber daß Gorbatschow angedeutet hat, er wolle Forderungen stellen an die amerikanische Politik, daß er möglicherweise gar ein politisches Comeback plant, das weckt Mißtrauen. Nachgetragen wird ihm, daß er, trotz Stetson, dem Sozialismus bislang nicht abgeschworen hat.
Und so erwartet die amerikanische ôffentlichkeit eher mit Unbehagen Gorbatschows Besuch in Los Angeles, wo die Aufräumarbeiten nach den blutigen Unruhen der vorigen Woche voll im Gange sind. Eigentlich hatte Reagan seinen Gast mit dem Helikopter über L.A. herumfliegen wollen, um ihm von oben die Swimmingpools der amerikanischen Arbeiter zu zeigen. Der Programmpunkt wurde abgesagt.
"Ich bin nach Amerika gekommen, weil dies doch das Land ist, wo sich Leistung lohnt," weinte ein koreanischer Geschäftsmann in die Kameras. Sein Geschäft war in Flammen aufgegangen während der Unruhen von Los Angeles, die dem Freispruch für vier weiße Polizisten folgten, die einen schwarzen Verkehrssünder blutig geprügelt hatten.
Jener Teil der Millionenstadt am Pazifik, wo die USA drei Tage lang die schlimmsten Straßenschlachten ihrer Geschichte erlebten, galt bislang als Muster eines Schmelztiegels; Schwarze, Weiße, Hispanos, Koreaner leben hier Block an Block. Nur: die meisten Geschäfte gehören den Koreanern, die meisten Armen sind schwarz.
Die koreanische Geschäftswelt von Los Angeles fragt: Wer kommt für die Schäden auf? Das ist nur eine der offenen Fragen, die Amerika jetzt quälen.
Wie konnte es dazu kommen, fragen sich Politiker, fragen sich die Menschen auf den Straßen, fragen Fernsehmoderatoren. Die Polizei hätte früher und härter eingreifen müssen, antworten die einen. Lauter ist, jedenfalls derzeit, der Chor derjenigen, die nach den Ursachen der Kriminalität fragen, die losgebrochen ist in den Stunden nach dem überraschenden Freispruch.
Präsident Bush empfing Sprecher der Bürgerrechtsbewegungen im Weißen Haus. Die trugen ihm das vor, was sie schon immer wußten: daß in den USA zuwenig für die érmsten der Armen getan wird, daß in den großen Städten ganze Stadtteile in Dreck, Elend und Gewalt verkommen, daß amerikanische Schulen einen erstaunlich hohen Prozentsatz an Analphabeten produzieren - während der Staat wegsieht. Neu war: Der Präsident hörte zu.
Bush kam schließlich auch den Rufen nach, sich persönlich der Ereignisse von Kalifornien anzunehmen. Wie zu Zeiten des Golfkriegs wandte er sich via Fernsehen an die Nation. (Er selbst, sagt Bush, sei auch, wie die allermeisten seiner Landsleute, erregt und verärgert gewesen über den Freispruch. Tief getroffen hätten ihn aber auch die Bilder von unschuldigen Bürgern, die in den Tagen und Nächten danach Opfer krimineller Schläger wurden.) Im wesentlichen faßte Bush zusammen, was jetzt fast alle sagten, Konkretes blieb aus. Mit einer Ausnahme: Er stellte Bundestruppen bereit, die aber nicht mehr abgerufen wurden.
Selbst 1965 und 1967, auf dem Höhepunkt der Rassenunruhen, kamen bei Straßenschlachten binnen einer Woche nicht soviele Menschen um wie in der letzten Woche in Los Angeles. 44 Tote wurden gezählt - 43 starben im Juli 1967 in Detroit. Dennoch, stellte die Nation erleichtert fest: So wie damals ist es nicht. Zwar flackerte überall im Land Protest auf gegen das als skandalös empfundene Urteil einer weißen Jury, die Feuersbrünste aber blieben auf Los Angeles beschränkt. Eine überwältigende Mehrheit auch der schwarzen Bevölkerung verurteilte Umfragen zufolge die Gewalttaten entschieden.
Zudem war für jedermann am Bildschirm zu sehen: Auch Weiße haben geplündert. Es herrschte Anarchie in einem Teil von Los Angeles. Da nahm sich jeder, was er kriegen konnte. Polizeichef Gates, der seine Beamten zuerst zurückgehalten hatte, dann aber hart durchgreifen ließ, werden jetzt sogar Chancen bei der nächsten Bürgermeisterwahl eingeräumt. Gates ist landesweit bekannt als "Law-and-Order-Mann", die Polizei von Los Angeles stand im Ruf, sich mit einem Minimum an Personal ein Mximum an Respekt verschaffen zu können. Wie, das demonstierte der Videofilm von Beamten, die auf den wehrlosen Rodney King einknüppelten. Gates muß deshalb im Sommer vorzeitig seinen Dienst quittieren.
(King, der während des Prozesse gegen die Polizisten geschwiegen hatte, meldete sich am dritten Tag der Unruhen zu Wort: "Ich bin neutral. ich liebe jedermann." Er könne zwar verstehen, was in den ersten Stunden nach dem Urteil geschah, aber jetzt müsse Schluß sein.)
Auch der Präsident scheint neuerdings daran zu zweifeln, daß die Ursachen des Gewaltausbruchs von Kalifornien mit Schlagstöcken zu beseitigen sind. "Wir müssen weiter daran arbeiten, ein Klima von Verständnis und Toleranz zu schaffen, ein Klima, in dem Rassismus, Bigotterie, Antisemitismus und Haß nirgendwo eine Chance haben," sagte Bush. Sein Wohnungs- und Städtebauminister, ein weithin unbekannter Mann namens Jack Kemp, weiß auch wie. "Wir müssen endlich zur Kenntnis nehmen," meldete er sich nach der Bush-Rede zu Wort, "daß in unseren Innenstädten allzu viele Menschen in völliger Chancenlosigkeit aufwachsen." Die Unruhen nannte er einen "Hilferuf" nach staatlichen Programmen.
Das klingt schrill in den Ohren konservativer Republikaner. Unter den republikanischen Präsidenten Reagan und Bush wurden die staatlichen Zuwendungen für Sozial- und Bauprogramme rigoros beschnitten. Weniger Staat, hieß ihr Schlachtruf, heiße mehr Freiraum für den unternehmerischen Einzelnen, und das bedeute: Mehr Wohlstand und Glück für alle. Im Feuer von Los Angeles sind nicht nur Schaufenster und Existenzen zu Bruch gegangen, sondern auch Illusionen.
James Henry saß friedlich auf seiner Veranda, als vor seinen Augen der Bürgerkrieg ausbrach. Fünf junge Schwarze machten sich über einen Hispanoamerikaner her, schlugen ihn, traten ihn, raubten ihm die Brieftasche. Dann ließen sie ihn hilflos liegen, mitten auf der Straße, in Los Angeles, nach dem Freispruch für weiße Polizisten, die einen schwarzen Verkehrssünder blutig geprügelt hatten. Henry, selber ein Schwarzer, erlebte in Minutenschnelle, was ganz Amerika seit Mittwoch bewegt: Wie reagieren, was tun? Was ist Recht, was ist Unrecht in dieser Situation?
Henry entschied sich. "Ich hatte Angst, aber der Mann war so hilflos. Ich mußte etwas tun," erzählte er Reportern. Zusammen mit einem Passanten trug er den Schwerverletzten von der Straße, auf seine Veranda, benachrichtigte dessen Familie und die Polizei. Die Beamten kamen 20 Minuten später.
Auch zwei Tage nach dem Freispruch und dem Ausbruch der bürgerkriegsähnlichen Unruhen in Kalifornien hatten Polizei und Feuerwehr die Lage nicht im Griff. Immerhin, anders als zu Beginn der Ausschreitungen, griff die Polizei jetzt ein. Häftlinge aus den Stadtgefängnissen wurden in andere Landesteile gebracht, um Platz zu schaffen für verhaftete Rowdys. Bis Freitagmorgen wurden über 500 Verhaftungen gezählt. Polizeichef Gates räumte ein, die Polizei habe vielleicht nicht schnell genug reagiert.
Auch die Nationalgarde, schon in der Nacht auf Donnerstag zu Hilfe gerufen, kam vielen nicht schnell genug. So griffen Bürger zur Selbsthilfe, formierten Freiwilligentrupps oder verbarrikadierten sich in ihren Häusern. Am Freitag rief Präsident Bush den Kriegsrat ein, um den Einsatz regulärer Armeetruppen möglich zu machen. Mehrere schwarze Poliiker und Demokraten hatten ihm zuvor schon vorgeworfen, sich zu sehr zurückzuhalten.
Die Wahlkampfberater des Präsidenten schwankten, welche Art von Reaktion am klügsten wäre. Während Bush in ersten Stellungnahmen Betroffenheit "gleichermaßen" über die Ausschreitungen wie über den Freispruch äußerte, nahm er wenig später bei Wahlkampfauftritten außerhalb der Hauptstadt eine Law-and-Order-Haltung ein. Bei Schwarzen, meinen die Bush-Berater, hat der Präsident im kommenden Wahlkampf ohnehin nicht viel zu gewinnen. Wohl aber könnte er viele Stimmen bei denenverlieren, die von ihm eine harte Linie im Kampf gegen Kriminalität erwarten.
Bushs voraussichtlicher Herausforderer von der oppositionellen demokratischen Partei, Bill Clinton, hatte ähnliche Probleme. Er braucht die Stimmen der Schwarzen und sprach in einer ersten Reaktion von Verständnis für die Unruhestifter: "Mehr und mehr Menschen, die von der Gesellschaft im Stich gelassen werden, glauben, daß es in unserem land nicht fair zugeht."
Erst Stunden später appellierte Clinton "an meine Mitbürger in Los Angeles: Wie erzürnt und aufgebracht Ihr auch seid, stoppt die Gewalt, stoppt sie jetzt!" Der Freispruch sei keine Entschuldigung für Brandstifter, Diebe und Mörder. Wahlkämpfer Bush warf Wahlkämpfer Clinton prompt vor, der "allglatte Bill" wolle aus der nationalen Tragödie politisches Kapital schlagen.
In vielen Städten der USA gingen Menschen auf die Straße, um gegen das Urteil zu demonstrieren. Außer in Kalifornien kam es bis Freitagmorgen aber nur in Atlanta, Georgia, zu Gewalttaten. Scheiben gingen dort zu Bruch, Autos wurden demoliert, aber es kam nicht zu Plünderungen und Morden.
Die Polizei hatte Mühe, die Umstände der Todesfälle von Los Angeles aufzuklären. Wer hat geschossen? Die Polizei oder Aufrührer? Offenkundig war nur: Die meisten der Toten sind Schwarze.
Einer, von dem viele dachten, er könne am ehesten dem Treiben ein Ende machen, hielt sich zurück: Rodney King, das Opfer der prügelnden Polizisten. Nur ein einziges mal, wenige Tage nach dem Vorfall, hatte er sich geäußert, seither geschwiegen, wohl auf Anraten seiner Anwälte. Außerdem hat er die Buch- und Filmrechte an seinem Fall verkauft. Er habe Angst, mißverstanden zu werden, sagte er jetzt, die öffentliche Rede sei seine Sache nicht.
Nicht nur James Henry sah, wie der Hispano-Amerikaner vor seinem Haus zusammengeschlagen wurde. Auch sein zehnjähriger Sohn stand dabei. "Warum machen die das?" wollte er wissen. Seine Mutter zögerte, von dem Freispruch zu sprechen: "Wie soll ich das erklären?"
Eine überwältigende Mehrheit der Amerikaner hält den Freispruch für weiße Polizisten, die einen wehrlosen schwarzen Verkehrssünder blutig prügelten, für Willkürjustiz. Praktisch jeder, der in den USA in diesen Tagen zu Wort kommt, ruft aber auch zu Ruhe und Besonnenheit auf, fordert ein Ende Gewalttätigkeiten, die diesem Urteil folgten.
(In Washington gingen Weiße und Schwarze zusammen auf die Straße, um gegen das Urteil von Los Angeles zu demonstrieren, friedlich. Schwarze wie Weiße sehen aber auch mit Schrecken, zu welcher Brutalität Menschen gegenüber unschuldigen Mitbürgern fähig sind. Das Fernsehen zeigte immer wieder Bilder von unvorstellbarer Grausamkeit.)
Typisch für Amerika: Im Augenblick der tiefsten Spaltung rückt die Gesellschaft zusammen, lebt die uramerikanische Tugend der Zivilcourage auf. Amerika wäre aber nicht Amerika, wenn die tragischen Geschehnisse von Kalifornien nicht auch prompt ein Wahlkampfthema würden - und ein Geschäft. Es ist schon mehr als makaber, daß Rodney King, das Opfer der prügelnden Polizisten, schweigt, obwohl er vielleicht am ehesten bei denen Gehör fände, die jetzt plündernd durch die Straßen ziehen. Er schweigt, so muß man annehmen, weil er aus seinem Unglück das aus seiner Sicht Beste zu machen versucht. Er will seine Geschichte vermarkten, er steht schon unter Vertrag.
King verhält sich da im Grunde nicht anders als Politiker, die erst kalkulieren, was ihnen am besten bekommt, bevor sie Stellung nehmen. Es dauerte zwei Tage, bis die Wahlkampfberater von Präsident Bush glaubten sicher zu sein, was dessen Wiederwahl am förderlichsten wäre.
(Dabei erwarteten nicht nur die Schwarzen im Lande, daß Bush beherzt Stellung nahm gegen den Freispruch. Sie erwarteten, daß Washington für Gerechtigkeit sorgt, wo die lokale Justiz parteiisch scheint. Die Mittel dazu gibt es. Sie wurden im Kampf um die Gleichberechigung der Schwarzen früher vielfach angewandt. Der gesetzestreue Durchschnittsbürger erwartete andererseits auch, daß der Präsident keine Minute unbeteiligt zusieht, wie Unschuldige ermordet und ausgeraubt werden, ohne daß die Polizei eingreift.)
Amerikas Wahlkämpfer sehen sich vor der Frage: Wie machen wir es der einen Wählergruppe recht, ohne die andere zu verprellen. Dabei könnten die Ereignisse von Kalifornien ein Anlaß sein, wirkliche Themen in den Wahlkampf zu bringen. Denn die Feuer von Los Angeles haben drastisch erhellt, woran dieses Land krankt: an tiefen sozialen Konflikten, oft - aber nicht nur - entlang der alten Rassengrenzen.
Immer mehr Amerikaner erwarten sich von Washington jetzt einen Aufbruch in eine neue éra der Reformen und der nationalen Versöhnung. Kein Durchwursteln und keinen Schlammwahlkampf. Die Ereignisse von Los Angeles dürften nicht ohne Einfluß darauf bleiben, welchen Präsidenten sich Amerika im November wählen wird.
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